Page 79 - IEG-JB2023
P. 79
VORTRÄGE VON STIPENDIAT:INNEN der Vortrag von Paul-Simon Ruhmann diesen Konflikt
AM TAG DER OFFENEN TÜR 2023 nicht in den gewohnten Konfessionskategorien, son-
dern grundlegender als Neuaushandlung der konfes-
09.09.2023 sionellen Gesellschaftsordnung. (Abb. 2)
Rory Hanna (University of Sheffield): Johanna Strunge (Georg-August-Universität Göttingen):
»Studierendenproteste und die ›Gemeinschaft »Tante Emma kolonial? Zur Kolonialgeschichte
der Lehrenden und Lernenden‹ in der frühen kleiner Lebensmittelläden«
Bundesrepublik« Johanna Strunges Promotionsprojekt nahm seinen
Mit Blick auf das Motto »Mensch und Gemeinschaft« Ausgangspunkt bei einer Besichtigung eines »Tante-
der Mainzer Wissenschaftsallianz und des Tags der Emma-Ladens« im Museum, der die Historikerin
offenen Tür des IEG sprach Rory Hanna über Irrungen sofort in seinen Bann zog. Seitdem erforscht sie die
und Wirrungen der »Gemeinschaft von Lehrenden Wege dieser Läden ins Museum. Sie untersucht, wie
und Lernenden« in den Universitäten der frühen Bun- diese oftmals kleinen und lokal wirkenden Geschäfte,
desrepublik. Er legte dar, wie die postulierte Einheit die wir heute vor allem als »Tante-Emma-Läden«
zwischen Studierenden und Professor:innen, die nach erinnern, im 19. Jahrhundert als »Kolonialwaren-
dem Nationalsozialismus zunächst von beiden Seiten handlungen« gegründet wurden, die in den globalen
als Beitrag zum geistigen Wiederaufbau der Hoch- Handel mit Genussmitteln eingebunden waren.
schulen angestrebt wurde, ab Ende der fünfziger Am Tag der offenen Tür des IEG erklärte Johanna
Jahre immer offensichtlicher zerbrach. Westdeutsche Strunge, warum diese Ladenbiographien erfor-
Studierende artikulierten zunehmend Unzufrieden- schenswert sind: An ihnen lässt sich eine bisher in der
heit mit obrigkeitlichen Verhältnissen auf dem Cam- Forschung fehlende Kolonialgeschichte alltäglicher
pus. Das geschah auch durch medienwirksame Ak- und kleiner Lebensmittelläden schreiben. Ebenso
tionen wie einem »Rasierstreik« im Jahr 1958 an der kann das Projekt zeigen, dass Museen viel zur kolo-
Universität Mainz, in dem sich männliche Studierende nialen Alltags- und Konsumkultur gesammelt haben.
aus Protest gegen mangelnde Mitwirkungsrechte an Objekte zum Handel und Genuss von Kolonialwaren
der Hochschulverwaltung Bärte wachsen ließen. Der schlummern dabei oft noch verborgen in vielen
Vortrag gab Einblicke in Rory Hannas Dissertations- Museen.
projekt über studentischen Aktivismus in den Jahren Am Beispiel eines ausgestellten Ladens in einem
vor der westdeutschen »68er«-Bewegung. (Abb. 1) Hamburger Museum und einer Nuss-Mix-Tüte stellte
sie exemplarisch zwei ehemalige Kolonialwarenläden
vor. Einer von ihnen wanderte in den 1970er-Jahren
Paul-Simon Ruhmann (Universität Duisburg-Essen): in ein Hamburger Museum, während sich der andere
»Gekränkte Freiheit? ›Geheimprotestantismus‹ und zu einem internationalen Lebensmittelunterneh-
evangelische Bewegung in Österreich (1680–1780)« men – u. a. mit Nuss-Mix-Sortimenten – entwickelte.
In seinem Kurzvortrag sprach Paul-Simon Ruhmann Spuren beider Läden lassen sich also auch heute noch
über Krypto-Heterodoxie und religiöse Erweckung im finden – im Museum oder eben im Supermarkt. (Abb. 3)
frühneuzeitlichen Österreich. Vom »Priestertum aller
Gläubigen« war in den Herrschaften der Habsburger
und der Salzburger Fürsterzbischöfe nach der Ge-
genreformation im 17. Jahrhundert nicht viel übrig-
geblieben. Das Versprechen einer Individualisierung
von Gottesbezug und Frömmigkeit, das die Epoche
so fulminant eingeleitet hatte, beschäftigte aber
weiterhin Teile der einfachen Landbevölkerung – und
zwar trotz aller Katholisierungspolitik eher zu- als
abnehmend, wie es schien. Evangelische Glaubensan-
sichten und -praktiken blieben meist latent, wurden
phasenweise aber auch offen und im Rahmen anhän-
gerstarker Bekenntnisbewegungen vertreten. Ihre
Akteure setzten sich damit schwerer Verfolgung aus.
Der Vorwurf der weltlich-geistlichen Eliten lautete,
die Untertanen strebten nach völliger »Freyheit« von
Kirche und Obrigkeit. Unter dem gegenwartsbezo-
genen Titel der »Gekränkten Freiheit« reflektierte
IEG-Jahresbericht 2023 | Stipendien- und Gästeprogramm 79