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VORTRÄGE VON STIPENDIAT:INNEN                     der Vortrag von Paul-Simon Ruhmann diesen Konflikt
            AM TAG DER OFFENEN TÜR 2023                       nicht in den gewohnten Konfessionskategorien, son-
                                                              dern grundlegender als Neuaushandlung der konfes-
            09.09.2023                                        sionellen Gesellschaftsordnung. (Abb. 2)



            Rory Hanna (University of Sheffield):             Johanna Strunge (Georg-August-Universität Göttingen):
            »Studierendenproteste und die ›Gemeinschaft       »Tante Emma kolonial? Zur Kolonialgeschichte
            der Lehrenden und Lernenden‹ in der frühen        kleiner Lebensmittelläden«
            Bundesrepublik«                                   Johanna Strunges Promotionsprojekt nahm seinen
            Mit Blick auf das Motto »Mensch und Gemeinschaft«   Ausgangspunkt bei einer Besichtigung eines »Tante-
            der Mainzer Wissenschaftsallianz und des Tags der   Emma-Ladens« im Museum, der die Historikerin
            offenen Tür des IEG sprach Rory Hanna über Irrungen   sofort in seinen Bann zog. Seitdem erforscht sie die
            und Wirrungen der »Gemeinschaft von Lehrenden     Wege dieser Läden ins Museum. Sie untersucht, wie
            und Lernenden« in den Universitäten der frühen Bun-  diese oftmals kleinen und lokal wirkenden Geschäfte,
            desrepublik. Er legte dar, wie die postulierte Einheit   die wir heute vor allem als »Tante-Emma-Läden«
            zwischen Studierenden und Professor:innen, die nach   erinnern, im 19. Jahrhundert als »Kolonialwaren-
            dem Nationalsozialismus zunächst von beiden Seiten   handlungen« gegründet wurden, die in den globalen
            als Beitrag zum geistigen Wiederaufbau der Hoch-  Handel mit Genussmitteln eingebunden waren.
            schulen angestrebt wurde, ab Ende der fünfziger   Am Tag der offenen Tür des IEG erklärte Johanna
            Jahre immer offensichtlicher zerbrach. Westdeutsche   Strunge, warum diese Ladenbiographien erfor-
            Studierende artikulierten zunehmend Unzufrieden-  schenswert sind: An ihnen lässt sich eine bisher in der
            heit mit obrigkeitlichen Verhältnissen auf dem Cam-  Forschung fehlende Kolonialgeschichte alltäglicher
            pus. Das geschah auch durch medienwirksame Ak-    und kleiner Lebensmittelläden schreiben. Ebenso
            tionen wie einem »Rasierstreik« im Jahr 1958 an der   kann das Projekt zeigen, dass Museen viel zur kolo-
            Universität Mainz, in dem sich männliche Studierende   nialen Alltags- und Konsumkultur gesammelt haben.
            aus Protest gegen mangelnde Mitwirkungsrechte an   Objekte zum Handel und Genuss von Kolonialwaren
            der Hochschulverwaltung Bärte wachsen ließen. Der   schlummern dabei oft noch verborgen in vielen
            Vortrag gab Einblicke in Rory Hannas Dissertations-  Museen.
            projekt über studentischen Aktivismus in den Jahren   Am Beispiel eines ausgestellten Ladens in einem
            vor der westdeutschen »68er«-Bewegung. (Abb. 1)   Hamburger Museum und einer Nuss-Mix-Tüte stellte
                                                              sie exemplarisch zwei ehemalige Kolonialwarenläden
                                                              vor. Einer von ihnen wanderte in den 1970er-Jahren
            Paul-Simon Ruhmann (Universität Duisburg-Essen):   in ein Hamburger Museum, während sich der andere
            »Gekränkte Freiheit? ›Geheimprotestantismus‹ und   zu einem internationalen Lebensmittelunterneh-
            evangelische Bewegung in Österreich (1680–1780)«  men – u. a. mit Nuss-Mix-Sortimenten – entwickelte.
            In seinem Kurzvortrag sprach Paul-Simon Ruhmann   Spuren beider Läden lassen sich also auch heute noch
            über Krypto-Heterodoxie und religiöse Erweckung im   finden – im Museum oder eben im Supermarkt. (Abb. 3)
            frühneuzeitlichen Österreich. Vom »Priestertum aller
            Gläubigen« war in den Herrschaften der Habsburger
            und der Salzburger Fürsterzbischöfe nach der Ge-
            genreformation im 17. Jahrhundert nicht viel übrig-
            geblieben. Das Versprechen einer Individualisierung
            von Gottesbezug und Frömmigkeit, das die Epoche
            so fulminant eingeleitet hatte, beschäftigte aber
            weiterhin Teile der einfachen Landbevölkerung – und
            zwar trotz aller Katholisierungspolitik eher zu- als
            abnehmend, wie es schien. Evangelische Glaubensan-
            sichten und -praktiken blieben meist latent, wurden
            phasenweise aber auch offen und im Rahmen anhän-
            gerstarker Bekenntnisbewegungen vertreten. Ihre
            Akteure setzten sich damit schwerer Verfolgung aus.
            Der Vorwurf der weltlich-geistlichen Eliten lautete,
            die Untertanen strebten nach völliger »Freyheit« von
            Kirche und Obrigkeit. Unter dem gegenwartsbezo-
            genen Titel der »Gekränkten Freiheit« reflektierte



                                                 IEG-Jahresbericht 2023 | Stipendien- und Gästeprogramm        79
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