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FORSCHUNGSBEREICH 2
Der Forschungsbereich ging von der Beobachtung Auf dieser empirischen Basis untersuchte der For-
aus, dass in allen Epochen der Geschichte und in schungsbereich erstens Sakralisierungs und Desa
allen Gesellschaften bestimmte Ideen, Prinzipien, kra lisierungsprozesse, die als Bewältigungsstrategien
Schriften, Dinge oder Praktiken als übergeordnet in existentiellen Extrem und Schwellensituationen
und unverfügbar, also als sakral verstanden wurden. erkennbar wurden oder durch solche Situationen
Für kollektive Denk und Handlungsweisen über- ausgelöst werden. Zu solchen Fundamentalerfah-
nahm das Sakrale eine orientierende und ordnungs- rungen gehörten Sterben und Tod, die epochen und
gebende Funktion. Der Forschungsbereich wurde mit gesellschaftsübergreifend Anlass sinnstiftender
Jahresende 2023 abgeschlossen. Idealisierungen wurden. Zweitens interessierte die
SAKRALISIERUNG UND DESAKRALISIERUNG
Diese ordnungsgebende Funktion des Sakralen Sakralisierung von Ordnungsvorstellungen, beispiels-
war historisch mitnichten auf institutionalisierte weise von Nation, Natur oder Arbeit. Damit verbunden
Religionen beschränkt. Versteht man das Sakrale war die Frage nach den Praktiken, mit denen diese
nicht im religionsphänomenologischen Sinne als Entwürfe gesellschaftliche Relevanz erhielten, bezie-
Kern und Ausgangspunkt institutionalisierter Reli- hungsweise auch die Frage nach Kritik und Gegner-
giosität, sondern als gesellschaftliche Konstruktion schaft, beispielsweise in Form von Blasphemie und
und wiederholte diskursive Zuschreibung, werden Sakrileg. Als gezielte Verletzung religiöser Überzeu-
multiple Sakralitäten sichtbar. Sie fordern Verbind- gungen und Gefühle, als Verspottung dessen, was
lichkeit ein, stiften soziale Kohäsion während sie anderen heilig ist, auch in den vermeintlich modernen
Gesellschaften differenzieren und bisweilen sogar und säkularen europäischen Gesellschaften Europas,
spalten. In ihrem Geltungsanspruch werden sie im- konnte Blasphemie und Sakrileg ein bedrohliches
mer auch angefochten und teils ganz entwertet, also Gewalt potenzial entfalten. Ein dritter Schwerpunkt
desa kralisiert. lag schließ lich auf unterschiedlichen, historisch
Ein derart kulturwissenschaftliches Verständnis des wandelbaren Formen und Praktiken des »Sakralitäts-
Sakralen trugen die Mitglieder des Forschungsbe- managements«. Darunter wurde die Authentisierung
reichs an so unterschiedliche Phänomene heran wie des als heilig Erachteten ebenso begriffen wie das
frühneuzeitliche Funeralschriften und predigten, Management autoritativer Texte qua Kanonisierung
die Verklärung des soldatischen Heldentods während oder als sakral verstandener Räume durch rigide
des Ersten Weltkriegs, die Kanonisierung jüdischer Abgrenzung. Die empirischen Erträge und Thesen
Gebetbücher im 19. Jahrhundert, gesellschaftliche dieser Forschun gen können in einem 2023 erschiene-
Reformdebatten christlicher Intellektueller oder nen Sammelband mit dem Titel »Multiple Sacralities«
Sa kralisierungen von Arbeit und vermeintlich ur (s.S. 23► und 114►) nachgelesen werden.
sprüng licher Natur im 20. Jahrhundert.
Sprecher: Benedikt Brunner (bis März 2023) und
Bernhard Gißibl