Page 19 - IEG-JB2023
P. 19

IM FOKUS







            CATHOLICS AND VIOLENCE IN THE

            NINETEENTH-CENTURY GLOBAL WORLD





            Historiker:innen haben die europä-  Legitimation für Gewalt gegen   »CATHOLIC CROWD
            ischen Kulturkämpfe des 19. Jahr-  Andersdenkende und ­gläubige   ACTION«: DAS GEWALT-
            hunderts auch als »paper wars«   nutzten. Dazu gehören Angriffe   SAME RINGEN UM
            beschrieben, also als Konflikte,   auf jüdische Bürger:innen in Gali-  ÖFFENTLICHE RELIGION
            die ohne Anwendung von physi-    zien, auf Liberalkatholik:innen in   IN EUROPA (1864–1914)
            scher Gewalt ausgetragen wurden.   Spanien sowie auf mexikanische
            Nachdem die Mitglieder der       Kleriker, die sich gegen die Ver-  Eveline G. Bouwers
            Emmy Noether­Nachwuchsgruppe     mischung indigener und katholi-  2013–2018 finanziert im Emmy
            »Glaubenskämpfe: Religion und    scher Kultur stellten, aber auch   Noether­Programm der DFG
            Gewalt im katholischen Europa,   Attacken, die durch katholische   Seit 2018 Institutionelle
            1848–1914« (Laufzeit 2013–2019)   Missionare gebilligt wurden. Die   Förderung
            bereits in Publikationen aufge-  Autor:innen erforschen die Motive
            zeigt haben, dass körperliche    religionsbezogener Gewalt, unter-
            Gewalt eine strukturierende Rolle   suchen ihre Wahrnehmung und   Wie sah das Verhältnis von Religi-
            in der Aushandlung religionsbe-  fragen nach Legitimationsstra­   on und Gewalt im 19. Jahrhundert
            zogener Konflikte im modernen    te gien. Sie werten aber auch    aus? Anhand von Fallstudien aus
            Europa gespielt hat, untersucht   De batten über Gewalt aus und   Belgien, Deutschland und Frank-
            dieser Band katholische Gewalter-  erörtern die Rolle von kirchlichen   reich, untersucht das Projekt,
            fahrungen aus globalhistorischer   und staatlichen Autoritäten.   wie katholische Gläubige, die von
            Perspektive. Die Kapitel befassen   Insgesamt zeigt der Band zum   politischen Entscheidungsprozes-
            sich mit Regionen, in denen die   einen die anhaltende Bedeutung   sen weitgehend ausgeschlossen
            Römisch­Katholische Kirche die   von religionsbezogener Gewalt im   waren, in ihrem Alltag mit Konflik-
            Mehrheitsreligion darstellte, eine   19. Jahrhundert, ja sogar die Zunah-  ten um die Grenzen des religiös­
            anerkannte Minderheitskonfessi-  me physischer Konflikte im späten   kirchlichen Raums umgingen.
            on war, eine Randgruppe abbil-   19. Jahrhundert. Zum anderen     Das Projekt beschreibt gewalt-
            dete oder sogar keine offizielle   beleuchtet er die Pluralität der ka-  sam ausgetragene Konflikte um
            Präsenz hatte. Zugleich befassen   tholischen Position, die auch Folge   die Säkularisierung von Bildung
            sie sich mit säkular­katholischen,   der klerikalen Unfähigkeit war,   und Klöstern, die Zelebrierung
            innerkatholischen und interreligi-  die Ideen katholischer Lai:innen   vermeintlicher »Nationalhelden«,
            ösen Konflikten, die entweder in   zu steuern. Darüber hinaus heben   die Einführung des päpstlichen
            Nationalstaaten oder in Imperien   die Autor:innen den Synkretismus   Unfehlbarkeitsdogmas sowie
            bzw. in den europäischen Kolonien   religionsbezogener Gewalt hervor,   den Verkauf von Kirchengütern.
            in Übersee stattfanden.          bei dem Tradition und Innovation   Es fällt auf, dass die Personen
            Der Band untersucht zum einen    abwechselnd die Praktiken und    damals weniger im Sinne eines
            Katholik:innen in ihrer Rolle    Semantiken von Gewalt inspirierten.   dualen »Kulturkampfes« agierten.
            als Opfer von Diskriminierung,   Indem der Band die vielfältigen   Vielmehr lieferten ihre Handlun-
            Marginalisierung und Gewalt.     Wechselwirkungen zwischen ka-    gen ein Zeugnis innerkatholischer
            Sie sahen sich Angriffen von anti­  tholischer Religion und Gewalt im   Pluralität. Dass diese Pluralität kei-
            kle ri kaler Seite, aber auch von   19. Jahrhundert beleuchtet, übt er   neswegs auf Konflikte in Europa
            anderen religiösen Gemeinschaf-  Kritik an den oft essentialistischen   beschränkt war, zeigt der Sammel-
            ten ausgesetzt – wie etwa von    sozialwissenschaftlichen Theorien   band Catholics and Violence in the
            französischen Revolutionär:innen,   über das Wesen der »religiösen   Nineteenth­Century Global World.
            argentinischen Sozialist:innen,   Gewalt«.
            amerikanischen Protestant:innen
            und chinesischen Bäuerinnen und                                   Eveline G. Bouwers (Hg.):
            Bauern, die sich zum Konfuzianis­                                 Catholics and Violence in the Nine-
            mus bekannten. Zum anderen be ­                                   teenth-Century Global World,
            handeln die Kapitel Katholik:innen                                Routledge, Abingdon 2023,
            in ihrer Rolle als Täter:innen: Solche,                           374 Seiten, ISBN 978-03-676-5097-1,
            die ihre religiöse Überzeugung                                    URL: <https://doi.org/10.4324/
            so wohl als Vorwand als auch als                                  9781003127857>



                                                                        IEG-Jahresbericht 2023 | Forschung     19
   14   15   16   17   18   19   20   21   22   23   24