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IM FOKUS

















            z. B. die Beschwerden eines      liche Polarisierung zunimmt. Glau-  und Konflikte verursachen oder
            örtlichen Konsistoriums, von un-  ben Sie, dass wir heute etwas von   verschärfen, aber gleichzeitig hat
            schätzbarem Wert um nachzu voll­  den »Early modern tolerations«   sie die Menschen auch dazu ins-
            ziehen, wie religiöse Vielfalt erlebt   lernen können?            piriert, Gutes zu tun und unseren
            wurde. Eine weitere Möglichkeit   Das ist eine knifflige Frage, weil   gewalttätigen und zerstörerischen
            besteht darin, Verhaltensmuster   moderne Historikerinnen und His-  Impulsen entgegenzuwirken. Ob
            zu erkennen und zu untersuchen,   toriker die Geschichte nur ungern   Religion eine Kraft für das Gute
            z. B. die Bereitschaft, über Religi-  als »magistra vitae« betrachten.   oder das Böse ist, hängt von vielen
            onsgrenzen hinweg zu heiraten,   Die frühneuzeitliche Welt bietet   Variablen ab, z. B. von den größe-
            oder deren Fehlen. Auf diese     sicherlich keine Blaupause für den   ren (gesellschaftlichen) Zusam-
            Wei se können Historikerinnen und   Umgang mit religiöser und ande-  menhängen, in denen sie wirkt.
            Historiker sowohl die Kontexte   rer Vielfalt in unserer Zeit. Aber   Aber sie als etwas von Natur aus
            untersuchen, in denen interkon-  sie bietet eine wichtige Lehre:   Böses (oder auch Gutes) zu be-
            fessionelle / ­religiöse Interaktion   Nämlich, dass selbst die Menschen   trachten, ist mir zu einfach. Also
            stattfand, als auch die Art dieser   der Frühen Neuzeit, die es grosso   nein: es gibt keinen Grund anzu-
            Interaktion. Durch die Kombinati-  modo zutiefst ablehnten, durch   nehmen, dass unsere Welt ohne
            on all dieser Faktoren in unserer   ihren Glauben voneinander ge-  Religion friedlicher und toleranter
            Analyse wird es möglich, einen   trennt zu sein, Wege fanden, die   wäre.
            Einblick zu gewinnen, wie, wo    Herausforderungen der religiösen
            und wann religiöse Vielfalt erlebt   Fragmentierung zu überwinden
            wurde.                           oder zumindest zu entschärfen.
                                             Das ist ihnen sicherlich nicht im-
            Gibt es »Vorbilder« und »Schwar­   mer gelungen – man denke nur an
            ze Schafe« in der Frage des      die vielen Religionskriege, die die   Jaap Geraerts /
            Tolerie rens? Gibt es Länder, die   frühneuzeitlichen Gesellschaften   Benjamin J. Kaplan (Hg.):
            besonders tolerant oder beson-   belasteten. Außerdem war es für   Early Modern Toleration.
            ders in tolerant waren?          alle Beteiligten nicht einfach, die   New Approaches, Routledge,
            Die Niederländische Republik wurde   religiösen Unterschiede zu über-  Abingdon 2023,
            oft als ein Hort der Toleranz ge­  winden. Im Gegenteil, es bedurfte   330 Seiten, 16 Abb.,
            se hen und dargestellt – meist von   erheblicher An strengungen und   ISBN 978-03-674-6707-4,

            den Niederländer:innen selbst.   Kompromissbereitschaft, um ein   URL: <https://doi.org/10.4324/
            Damit hob man sie von anderen    gewisses Maß an Harmonie und     9781003030522>
            Län dern ab, besonders vom katho­  Frieden aufrechtzuerhalten. Aber
            li schen Spanien, mit dem die Repu-  irgendwie und erstaunlich oft ge-
            blik im Krieg lag. Heutzutage sind   lang es unseren frühneuzeitlichen
            solche ideologischen Positionen   Vorfahren, einen Modus vivendi
            weitgehend, wenn auch nicht voll-  zu finden.
            ständig, durch weitaus differen zier­
            tere Ansichten ersetzt worden. Bei   In den Beiträgen Ihres Bandes
            interna tionalen Vergleichen geht   geht es durchweg um konfessio-
            es nicht mehr darum, die Nationen   nelle oder religiöse Differenzen.
            nach ihrer (mangelnden) Toleranz   Glauben Sie, die Welt wäre
            einzustufen, sondern vielmehr    friedlicher und toleranter ohne
            darum, die unzähligen Möglich kei­  Religion?
            ten zu erkennen, zu erklären und   Die Idee, dass die Welt ohne
            zu verstehen, wie mit religiöser   Religion besser dran wäre, wird
            Vielfalt in den verschiedenen Ge-  von atheistischen Hardlinern wie
            sellschaften umgegangen wurde.   Richard Dawkins vertreten. Ich bin
                                             selbst Atheist, aber für mich ist
            Heute haben viele Menschen den   diese Aussage ein Glaubensarti-
            Eindruck, dass die gesell schaft­  kel. Sicherlich kann Religion Streit



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